Anmerkungen zu dem Film „Ein Riss durch die Seele # Fluchterfahrungen“

Von Ralf Kotschka


Der Autor ist freier Filmemacher und Medienproduzent und hat sich in bisherigen Projekten ausführlich mit den Möglichkeiten von „oral history“ und Zeitzeugengesprächen befasst

Als im Sommer 2015 eine große Anzahl von Menschen aus Syrien, Iran, Afghanistan und angrenzenden Ländern unter teils abenteuerlichen und lebensgefährlichen Umständen Deutschland erreichten, war es erst wenige Monate her, dass ich die Transportliste entdeckt hatte, auf der mein Vater, damals 7jährig, mit seiner Familie gelistet war. In Wagon Nr. 23 war er einer von rund eintausend Passagieren in einem langen Zug, der 1947 aus der Tschechoslowakischen Republik nach Westdeutschland fuhr. Damals fuhr täglich ein solcher Zug diese Strecke.

Nie zuvor war mir so stark bewusst gewesen, dass ich Sohn eines Flüchtlings, eines Vertriebenen bin. Natürlich kannte ich all die familiären Erzählungen aus der Anfangszeit: wie die Familie meines Vaters monatelang auf dem Dielenboden einer Gaststätte in Hessen schlafen musste, wo sie zwangseinquartiert wurde. Wie es nach und nach aufwärts ging. Wie eine Schwester heiratete und alle halfen beim Hausbau. Wie dafür die Schule abgebrochen wurde. Die Entwurzelung, die mit dieser Zugfahrt, der Enteignung etc. einherging, wurde nie thematisiert. Es blieben viele Fragen unbeantwortet.

Im Sommer 2015 hatte ich sofort den Gedanken, die Lebensgeschichten, die Fluchterfahrungen dieser Menschen per Video-Interview festzuhalten. Ich meldete mich für eine Hospitanz in einer Aufnahmestelle in Trier-West, auch, um einfach zu schauen, wo ich helfen konnte.
Das Vertrauen der Geflüchteten zu erhalten, erwies sich dabei als schwierig. Sie waren in einer ihnen völlig fremden Umgebung gelandet, ohne Sprachkenntnisse. Für ihre Grundbedürfnisse war zwar gesorgt, aber sie hatten ihr soziales Umfeld verloren, manche sogar ihre Familie. Die biologischen Lebensfunktionen schienen gesichert – aber was war mit allem anderen? Restlos alle Geflüchteten mussten ihre bisherigen Lebensentwürfe, ihre Sehnsüchte, Ihre Wünsche oder Zukunftspläne über Bord werfen. Für das alles gab es erst einmal gar keinen Ersatz.
Viele hatten mit dem Erlebten genug zu kämpfen. Unerträgliche Gewalterfahrungen, Erfahrungen vom Tod nahestehender Menschen, vom Verlust alles Eigentums, ihrer Wohnhäuser, ihrer Städte – so manch einer brauchte Zeit, um zur Ruhe zu kommen, um Bilder im Kopf zu verarbeiten, um neue Zuversicht zu schöpfen.

Bei mir reifte der Gedanke, dass es einer Vielzahl von Vertriebenen nach 1945 nicht so völlig anders ergangen war. Vielleicht nicht in dieser Intensität und Radikalität. Ich machte mich auf die Suche nach Vertriebenen in Trier-West, und fand heraus, dass in den angrenzenden alten Kasernengebäuden tatsächlich noch einige Menschen lebten, die erst in den 50er Jahren dorthin gezogen waren – nach ihrer kriegsbedingten Vertreibung. Ihr Vertrauen zu erwerben erwies sich als noch schwieriger. Viele von ihnen hatten „ihre Geschichte“ noch niemals jemandem erzählt – und wollten es auch dabei belassen. Nur sehr wenige trauten sich vor die Kamera.

Schließlich dehnte ich meine Suche nach solchen Zeitzeugen auf ein größeres Gebiet aus. Die Intention war dabei, völlig verschiedene Zeitzeugen aus völlig verschiedenen Zeiten nebeneinanderzustellen, um die zutiefst menschliche Grunderfahrung des Verlusts von Heimat sichtbar, spürbar zu machen. Ohne besondere Kommentierung, ohne moralischen Zeigefinger, ganz in der Tradition der „talking heads“, der „oral history testimonies“, wie sie vor allem in den USA mit Holocaust-Überlebenden seit vielen Jahrzehnten praktiziert wird.

Die ganz besondere Form der medialen Aufzeichnung in Form von Video-Interviews ist in der Lage, durch den Transport von Mimik, Gestik und Tonfall solche subjektiven Beiträge zu welthistorischem Geschehen zu einem einzigartigen Einstieg mit der Beschäftigung mit reinen Fakten und Zahlen zu machen. Die subjektiven Erzählungen und Sichtweisen sind ein gerechtfertigter, emotionaler Kommentar zu objektiven Geschichtsschreibung. Sie können beispielsweise im schulischen Unterricht eingesetzt werden (was innerhalb des Projekts „Fluchterfahrungen“ auch durch die kostenlose Verteilung von Schul-DVDs geschieht), oder in Museen oder anderen Lerneinrichtungen einen Beitrag leisten zur individuellen Sicht auf das große Weltgeschehen.
Viele meiner bisherigen Projekte befassen sich mit diesem Aspekt des kommunikativen Gedächtnisses einer Gesellschaft, dass abseits vom – oder in Ergänzung zum - kollektiven Gedächtnis eine eigene Sichtweise auf historische Ereignisse tradieren kann.

Der Dokumentarfilm „Ein Riss durch die Seele # Fluchterfahrungen“ reiht sich in diese Arbeiten ein.